Die Finsternis
Sie waren von Weg abgekommen und verschollen. Erst nach drei Tagen gelang es einer Gruppe von Freiwilligen, unter der Führung des ehrenwerten Beamten Linnher Reubenschild, Spuren am Rande des Süllmoores auszumachen. Von den vier vermissten Karren fand man einen rasch mit gebrochener Achse. Die anderen drei steckten halb versunken im Moor. Großteilig zersplittert und blutbespritzt ragten sie wie tote Gerippe aus dem Nebel. Unzählige Kadaver fand man, ebenso zerfetzt wie die Karren. Reubenschild wollte fast aufgeben und umkehren, als einer der suchenden Schäfer ein leises Wimmern tief im Nebel vernahm. Heldengleich und mit einem Seil gesichert stampfte er den Geräuschen folgend immer tiefer in die Finsternis. Seine gellenden Schreie erfüllten das Moor, als man ihn verzweifelt am Seil zurückzog. Er war kaum noch bei klarem Verstand und umklammerte den blau gefrorenen Körper einer jungen Frau. Scheinbar hatte er die letzte Überlebende des Wagenzuges gefunden. Sie wurde nach Arkanar gebracht und versorgt, genau wie der Schäfer. Reubenschild sprach von einem Wunder und vom Willen Sors, dass die junge Frau unverletzt war und schwanger noch dazu. Zu ihrem Glück konnte sie sich nicht mehr an die Geschehnisse erinnern. Der Schäfer wurde als Held gefeiert und von allen bejubelt. Der Jubel nahm ab, als der Bauch der Schwangeren in den nächsten Wochen unnatürlich schnell fülliger wurde. Vom Jubel keine Spur mehr, als die Mutter unter extremen Schmerzen eine deformierte Missgeburt gebar.
Sie umgibt dich, hüllt dich ein und überzieht alles an dir mit einem eiskalten Schauer, sie kriecht dir unter die Haut und lässt dich wahnsinnig werden.
Pekka, Schafhirte aus Estorien
Die Finsternis ist mehr als nur Dunkelheit, mehr als nur die Abwesenheit von Licht. Sie ist das Böse. Das Böse in seiner reinsten, elementarsten Form. Sie liegt wie ein undurchdringlicher Nebel über vielen Landstrichen und verfinstert einige zur ewigen Nacht. Und auch wenn die Finsternis wie ein Nebel oder ein Dunst erscheint, so verhält sie sich oft ganz widersprüchlich dazu. So sinkt sie nie bis zum Boden herab, scheint leichter zu sein als Luft, bewegt sie sich manchmal dennoch entgegen dem Wind. Sie verbrennt die Haut von Mensch und Tier und ebenso die Blätter der Pflanzen, obwohl sie sich eiskalt anfühlt. Und sie verschluckt den Schein jeder bekannten Lichtquelle. Sie dämpft jedes Geräusch und macht es fast unmöglich, die Orientierung nicht zu verlieren. Jedes Leben, das die Finsternis länger berührt, wird von ihr gezeichnet und verändert. Nicht immer besteht diese Veränderung in nach Außen sichtbaren Deformationen und Verwachsungen, nicht weniger teuflisch sind Veränderungen der Seele, des Charakters. Die Finsternis weckt die dunklen Seiten eines jeden.
